Forschung braucht Zeit
Die Wahrung der Lebensqualität steht für MS-Betroffene nach der Diagnose an erster Stelle. Die MS soll nicht zum Lebensmittelpunkt werden und Einschränkungen möglichst lange hinausgezögert werden. Dazu gehört eine konsequente Therapie – von Anfang an. So kann der Verlauf der MS positiv beeinflusst werden, da sind sich die Mediziner einig.
Laut Deutscher Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) brechen allerdings zehn bis 20 Prozent der Betroffenen die Therapie mit immunmodulatorischen Substanzen nach etwa sechs Monaten ab – obwohl ein Behandlungseffekt oft erst nach zwölf Monaten einsetzt. Nach einem Jahr sind es dann bereits 30 bis 40 Prozent. Gründe dafür können fehlende Informationen oder eine komplizierte Therapie sein. Außerdem spielen körperliche und seelische Verfassung eine große Rolle, wenn es um die Therapietreue geht. Werden Beschwerden deutlich wahrgenommen, sind laut Welt Gesundheitsorganisation (WHO) Betroffene eher bereit, ihre Therapie fortzuführen. Ebenfalls Einfluss auf die Therapietreue können Erwartungen an neue Therapiemöglichkeiten haben – sie schüren Hoffnungen, aber auch Unsicherheiten.
Ein neues Medikament braucht Zeit
Kaum ein anderes Krankheitsgebiet wird so intensiv beforscht wie die Multiple Sklerose. Ärzte und insbesondere Betroffene wünschen sich, dass die Erkrankung irgendwann geheilt werden kann. Doch dies ist Zukunftsmusik, solange die Ursachen nicht geklärt sind. Allerdings erhalten in diesem Jahr gleich mehrere neue Medikamente, unter anderem orale Präparate, die Zulassung zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose. Das weckt bei vielen Betroffenen große Hoffnungen. Sind sie berechtigt? Schon häufiger sind in der Vergangenheit vielversprechende Zukunftsträume an den Klippen der Realität zerschellt. Wann genau weiß die Medizin, ob sich ein Medikament wie erhofft in der Praxis bewährt? Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Leiter des Zentrums für klinische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Dresden gibt zu den neuen Therapien seine Einschätzung.
Herr Prof. Ziemssen, wie lange dauert es eigentlich, bis man sicher sein kann, dass ein neues Medikament hält, was es verspricht?
Ein neues Medikament kann man erst dann in seiner Gesamtheit beurteilen, wenn es im breiten Maße für den Patienten zugänglich ist und es ohne studienbedingte Einschränkungen eingenommen werden kann. Das kann zwei bis drei Jahre dauern. Dies heißt aber noch nicht, dass man keine unliebsamen Überraschungen mehr damit erleben kann. Um ein Medikament in allen Bereichen einschätzen zu können, braucht man sicherlich eine Zeit von zehn Jahren.
Trotzdem brauchen wir Innovationen in der MS-Behandlung und können nicht zehn Jahre warten. Nur wenn ein neues Medikament breit angewendet wird und wir es verstehen, können wir auch eventuelle Probleme identifizieren. Aber wer sehr ängstlich ist, sollte wissen, dass ein Medikament etwa zehn Jahre breit eingesetzt werden muss, bevor auch seltene "Überraschungen" sich gezeigt haben.
Wo sehen Sie die Vorteile einer über Jahre bewährten Basistherapie?
Wenn man als Betroffener ein Therapeutikum langjährig eingenommen hat, weiß man in der Regel, was man von dem Präparat erwarten kann und wie stabil sich der Krankheitsverlauf unter dieser Therapie darstellt. Man kann sich in den meisten Fällen auf eine fast 20 jährige Erfahrung mit den Wirkstoffen der Basistherapie verlassen. Das ist eine Hausnummer, die nicht zu unterschätzen ist. Zudem haben die meisten Betroffenen mit den regelmäßigen Injektionen der Basistherapie bereits eine Routine entwickelt.
Was raten Sie einem Betroffenen, der dank seiner Behandlung über einen langen Zeitraum schubfrei ist und nun darüber nachdenkt, sein Medikament abzusetzen und auf ein Neues zu warten?
Das ist sehr unterschiedlich. Generell würde ich einem Patienten, der stabil eingestellt ist und gut mit der jeweiligen Therapie zurechtkommt, den Wechsel nicht aktiv empfehlen.
Wann würden Sie einem Betroffenen einen Umstieg von seiner Therapie auf ein neues Medikament empfehlen?
Wenn Menschen mit MS extreme Probleme mit dem Spritzen haben oder wenn starke Hautveränderungen aufgetreten sind, die das Spritzen zur Qual werden lassen, dann ist es eine sehr erfreuliche Option, den Betroffenen orale Präparate anzubieten.
Muss bei der oralen Einnahme mit der Möglichkeit von Wirkverlusten oder Interaktion mit anderen eingenommenen Arzneimitteln gerechnet werden? Welche Nebenwirkungen könnten sich ergeben, z. B. im Magen-Darm-Trakt?
Für die aktuell zugelassenen Präparate müssen wir keine wesentlichen Interaktionen befürchten. Wir haben in den Studien gesehen, dass die üblichen Medikamente, die die MS Betroffenen einnehmen, wie zum Beispiel die Antibabypille, auch mit den neuen oralen Therapien gut kombinierbar sind.
Bei oralen Medikamenten können Probleme mit der Magen-Darm-Verträglichkeit auftreten, was in der Natur der Sache liegt. Zusätzlich können spezifische Effekte auftreten, die mit der Wirkung des Medikamentes zu tun haben, wie zum Beispiel ein Flush oder eine Haarverdünnung. Im Laufe der Zeit normalisieren sich die Auffälligkeiten in der Regel.
Welche Entwicklungen erwarten Sie in der Zukunft? Wie steht es mit den Therapeutika, die eine
Im Moment sind wir sehr aktiv und gut unterwegs im Bereich der antientzündlichen Therapien. Mit den neuen oralen Therapien haben wir nun die Möglichkeit, auf neue immunologische Angriffspunkte zu zielen, beispielsweise Entzündungsprozesse im Gehirn selbst zu modulieren. Dies könnte wiederum potentiell für andere Patiententypen wie z.B. den sekundär-progredienten Patienten wichtig sein, den wir zurzeit nur unzureichend behandeln können. Darüber hinaus gibt es erste Ansätze, im Gehirn körpereigene Blockaden von Regenerationsprozessen aufzuheben Dieser Ausgangspunkt erscheint mir sehr viel versprechend, da unser Gehirn theoretisch deutlich mehr Regenerationspotenzial besitzt, als es aktuell genutzt wird.
Wann glauben Sie, ist es soweit?
Das sind Ansätze, die vom Tierexperiment jetzt gerade in der ersten Erprobung beim Patienten eingesetzt werden. Sind sie erfolgreich, dauert es etwa acht bis zehn Jahre, bis das bei den Betroffenen ankommt. Solange dauert es, bevor sich ein Prinzip etabliert hat und geprüft wurde, ob es sicher ist und ob es funktioniert.
Weitere Informationen zum Thema auf der Seite der DMSG.