"Machen sie sich nicht zum Sklaven Ihrer Blase"
Blasenfunktionsstörungen treten bei 50 bis 80 Prozent der MS-Betroffenen auf. Der Neuro-Urologe Dr. Joachim Weiß erläutert, welche Therapien den Betroffenen helfen können.
Welche Blasen- und Darmstörungen treten bei MS auf?
Als entzündliche Erkrankung des Nervensystems kann die Multiple Sklerose die Nerven im ganzen Körper betreffen, auch diejenigen, die Blase und Darm versorgen. Dabei können die Nerven gereizt (= überaktiv) oder gelähmt (= unteraktiv) sein.
Beckenboden und Schließmuskel sind zwei unabhängige Organsysteme. Bei beiden können spastische oder schlaffe Lähmungen auftreten, so dass vier verschiedene Kombinationen möglich sind. Hat jemand beispielsweise eine spastische Lähmung am Beckenboden, jedoch eine schlaffe an Blase und Darm, so kommt es zu Restharnbildung und Stuhlverhaltung.
Im umgekehrten Fall leidet der Patient unter einer Reizblase und vermehrtem Stuhlgang. Dabei kann ein und derselbe MS-Patient variierend sowohl unter Blasenüberaktivität als auch unter einer Blasenentleerungsstörung leiden. Das kann sogar von der Tagesform abhängen.
Die meisten Menschen mit MS leiden unter einer überaktiven Reizblase mit Inkontinenz. Die Reizblase ist manchmal sogar das erste Zeichen der Multiplen Sklerose.
Welche Therapiemöglichkeiten stehen zur Verfügung?
Am Anfang steht die Physikalische Therapie, beispielsweise durch Gymnastik, Massagen, Wärme- oder Kälteanwendungen. Ganz wichtig ist das Blasentraining, das Menschen mit MS schon bei der Tendenz zur Reizblase durchführen sollten. Der Betroffene führt dann ein Protokoll und hält genau fest, wie oft und wie viel er trinkt und wie oft er auf Toilette geht. Als Erstes versucht er dann, im sicheren Zuhause eine halbe Stunde auszuhalten.
Die Blase lässt sich einfach und gut trainieren, das Fassungsvermögen lässt sich steigern. Der Mensch sollte sich auf keinen Fall zum Sklaven seiner Blase machen. Wer immer gleich nachgibt, hat bald eine "Konfirmandenblase".
Das Blasentraining kann durch Biofeedback optimiert werden. Dabei sieht der Patient auf einer Leuchtskala, wie stark er den Schließmuskel anspannt. Alternativ oder zusätzlich kann die Muskelspannung durch eine Reizstrombehandlung erhöht werden. Außerdem können Menschen mit Blasen- oder Darmstörungen aufgrund schlaffer Muskeln mit Gymnastik und Muskeltraining des Beckenbodens eine Verbesserung erreichen.
Sollten all diese Maßnahmen nicht ausreichen, gibt es zahlreiche Medikamente, die eine beruhigende oder anregende Wirkung haben. Insgesamt erhalten 80 Prozent der MS-Betroffenen mit Blasen- oder Darmstörungen Medikamente, darunter häufig Antibiotika, um Infektionen vorzubeugen. Die Medikamenteneinnahme sollte jedoch nicht zu früh eingesetzt und entsprechend koordiniert werden, da Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln zu beachten sind. Wenn die medikamentöse Therapie nicht ausreicht, kann die Neuromodulation helfen. Dabei implantiert der Neuro-Urologe am Kreuzbein ein kleines Gerät, das ähnlich wie ein Herzschrittmacher funktioniert und die Nerven stimuliert.
Kommt es immer wieder zu Restharnbildung, ist auch die Selbstkatheterisierung eine gute Behandlungsmöglichkeit, vorausgesetzt, die motorischen Fähigkeiten reichen aus. Die Selbstkatheterisierung ist nach Einweisung durch den Arzt leicht zu erlernen und wird bald zur Gewohnheit wie das Zähneputzen. Es ist natürlich eine große Erleichterung, wenn jemand nicht mehr 25 Mal am Tag auf die Toilette muss, sondern sich alle 4-5 Stunden einmal katheterisiert.
Um eine maximal spastische Lähmung zu therapieren, kann der Arzt Botulinumtoxin ("Botox") in die Blasenwand injizieren. Dadurch wird die spastische in eine schlaffe Lähmung umgewandelt. Das Ziel der Behandlung ist immer in erster Linie den Blasendruck zu reduzieren, um die Niere vor möglichen Schädigungen durch den hohen Druck in der Blase zu bewahren. Hierbei nimmt man die Unfähigkeit, die Blase auf normalem Weg zu entleeren und damit den Einmalkatheterismus bewusst in Kauf. Dies ist meist das kleinere Übel. Es kann jedoch versucht werden, einen Mittelweg durch Dosisanpassung zu finden.
Bei den Darmstörungen, die im Zusammenhang mit der MS auftreten, steht die Verstopfung an erster Stelle. Hier können sich durch den hohen Druck Ausbuchtungen, so genannte Divertikel, bilden, die sich entzünden und platzen können. Daher stehen hier stuhlgangregulierende Maßnahmen an erster Stelle. Dazu gehören Pflanzenstoffe wie Flohsamen, aber auch physikalische Therapien wie Spülungen. Natürlich sollten Betroffene sich auch darmfreundlich ernähren, viel trinken und sich bewegen.
Wann sollten sich Menschen mit MS an einen Urologen wenden?
Hierzu gibt es keine Richtwerte. Wenn jemand vorher fünfmal am Tag auf die Toilette musste und jetzt sind es zwölfmal, dann ist es in diesem Fall auffällig, während es für einen anderen Menschen ganz normal sein kann.
Menschen mit MS sollten in jedem Fall sensibel auf Veränderungen reagieren. Grundsätzlich gilt: Wenn jemand Veränderungen im Blasen- oder Darmverhalten als störend empfindet, sollte er das Problem sobald wie möglich von einem Facharzt abklären lassen. Lieber sollte er vorsorglich zum Arzt gehen als zu lange zu warten. Je früher die Diagnose und Therapie erfolgt, umso wirkungsvoller ist sie. Deshalb ist es auch wichtig, dass Betroffene sich an einen Arzt wenden, der sich wirklich auskennt. Bei milden Beschwerden reicht es in der Regel, wenn sie einmal im Jahr für Ultraschalluntersuchungen und Restharnmessungen einen Urologen aufsuchen. Gerade bei Restharnbildung ist dies wichtig, um Infektionen, die bis zum Nierenversagen führen können, zu vermeiden.