MS, Autoimmunerkrankungen, Allergien – Welche Rolle spielen unsere Gene?
Viele Menschen mit MS stellen sich die Frage nach der Vererbbarkeit der Erkrankung. Vielleicht fragen auch Sie sich, welche Ursachen denn die Erkrankung hat und ob eine "normale" Familienplanung überhaupt möglich ist?
Zwar wird die MS üblicherweise als Erkrankung angesehen, die durch Umwelteinflüsse verursacht ist, allerdings wurde in Studien mit Zwillingen und Untersuchungen zur familiären Verbreitung der MS auch ein genetischer Hintergrund dokumentiert: Ein eineiiger Zwilling eines MS-Erkrankten, der dieselben Gene besitzt, hat ein etwa 30 %iges Risiko, ebenfalls an MS zu erkranken. Das Risiko eines Kindes einer oder eines MS-Betroffenen, ebenfalls im Laufe seines Lebens an MS zu erkranken, ist mit 3 % gegenüber dem der Gesamtbevölkerung rund 30-fach erhöht.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob es nun ein "MS-Gen" gibt, das möglicherweise mit neuen Therapieansätzen ausgeschaltet werden könnte. Forscher gehen aufgrund der Fülle der bekannten Daten von einer größeren Anzahl beteiligter Gene aus, also von einer so genannten polygenen Veranlagung. Allerdings ist dies letztendlich nicht bewiesen. Als gesichert gilt, dass bestimmte Gentypen in einem Bereich unseres Erbguts, der so genannten HLA-Region, eng mit dem MS-Risiko verknüpft sind. Dies erstaunt nicht, denn immerhin handelt es sich um einen Bereich des Erbguts, der mit vielen verschiedenen Erkrankungen assoziiert ist und eng mit dem
Andererseits nimmt man an, dass innerhalb des letzten Jahrhunderts die Zahl der MS–Erkrankungen bezogen auf die Bevölkerung deutlich zugenommen hat und zwar insbesondere bei Frauen. In so einer kurzen Zeitspanne können sich aber genetische Risikofaktoren unmöglich verändert haben. Diese Beobachtung und die auffällige Häufung in bestimmten Regionen der Erde nähren Hypothesen wie die Beteiligung von Vitamin D oder die Beteiligung bestimmter Krankheitserreger.
In mehreren Studien wurde auch ein Zusammenhang zwischen MS und dem Auftreten anderer Autoimmunkrankheiten oder Allergien untersucht, da die Vermutung naheliegt, dass hier ähnliche Risikofaktoren zum Tragen kommen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen durchaus eine Verbindung zwischen der MS und dem Auftreten anderer Autoimmunkrankheiten. Allerdings konnte bisher kein Zusammenhang zwischen MS und allergischen Störungen gefunden werden.
Gemeinsamkeiten bei der Aktivierung bestimmter Gene (Genexpressionsmuster) von Patienten mit Systematischem Lupus Erythematosus (SLE), Typ 1 Diabetes, Rheumatoider Arthritis und MS und die Resultate genetischer Untersuchungen von Verwandten ersten Grades, die nicht von einer Autoimmunkrankheit betroffen sind, legen eine gemeinsame genetische Prädisposition bei Autoimmunerkrankungen nahe. Dennoch spielen auch hier Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. So gibt es einen erwiesenen Zusammenhang zwischen einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus und der Erkrankung an SLE. Ebenso konnten Studien belegen, dass es einen umgekehrten Zusammenhang zwischen der Einnahme von Vitamin D und dem Risiko von MS, Rheuma und Typ 1 Diabetes gibt.
Eine kürzlich im internationalen Wissenschaftsmagazin Acta Neurologica Scandinavica veröffentlichte US-amerikanische Studie beruht auf der Befragung von 298 Frauen mit MS und 1.248 gesunden Frauen. Dabei wurde nach einem Zusammenhang zwischen dem Risiko einer MS-Erkrankung und Fällen von Autoimmunkrankheiten bzw. Allergien in der Familie gefahndet.
Die statistische Auswertung der Befragung ergab keinen Zusammenhang zwischen dem MS-Risiko und einer Vorgeschichte hinsichtlich Allergien. Das Risiko, an MS zu erkranken, war aber bei den Frauen um 35 % höher, bei denen in der Familie Fälle von Autoimmunkrankheiten dokumentiert waren. Auch eine familiäre Häufung der MS wurde bestätigt: Man errechnete für Mitglieder von Familien mit bereits bekannten MS-Fällen ein etwa zehnfach erhöhtes Risiko, an einer MS zu erkranken.
Diese Ergebnisse legen nahe, dass ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Allergien und dem Risiko, an MS zu erkranken, eher unwahrscheinlich ist. Trotzdem sollte man die Verwandtschaft der Krankheitsmechanismen nicht vergessen. Immerhin beruhen Allergien und MS zumindest teilweise auf einer gestörten Immuntoleranz, das Immunsystem "reagiert über" oder kann "Freund und Feind" nicht mehr unterscheiden. Auch wenn Allergien und Autoimmunerkrankungen bisher zwei eher unterschiedlichen Zweigen des Immunsystems zugeschrieben werden, können bei beiden Erkrankungsformen ähnliche Vorgänge im Immunsystem ablaufen. Ein Bindeglied zwischen Allergie und Autoimmunprozessen könnten die so genannten Mastzellen sein, die wahrscheinlich direkt durch die T-Zellen des Immunsystems aktiviert werden und dann eine spezifische Entzündungsreaktion auslösen können.
Fazit
Die genetische Prädisposition bei MS zeigt sich an der familiären Häufung der Erkrankung. Auch wenn klar ist, dass Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielen, so ist das verstärkte Auftreten von MS bei nahen Verwandten sicher auch auf die gemeinsamen Gene zurückzuführen. Auf der anderen Seite ist der Zusammenhang zwischen MS und dem Auftreten anderer Autoimmunkrankheiten in der Familie wahrscheinlich schwächer ausgeprägt und bisher schwerer nachvollziehbar.
Diese komplexen Zusammenhänge zeigen deutlich, dass noch viele weitere Untersuchungen notwendig sind, um die Auslöser der MS und anderer Autoimmunerkrankungen besser zu verstehen. Deutlich wird aber, dass gerade bei Erkrankungen des Immunsystems genetische Mechanismen und Umweltfaktoren in einer sehr komplizierten Art zusammenwirken. Dabei sollte man nie vergessen, dass jeder Betroffene seine eigene Geschichte und Symptomatik hat und systematische Untersuchungen immer ein sehr allgemeines Bild widerspiegeln.
Quellen:
Oksenberg JR, Baranzini SE, Sawcer S, Hauser SL. The genetics of multiple sclerosis: SNPs to pathways to pathogenesis. Nat Rev Genet, 2008 9: 516-526.
Alonso A, Hernán MA, Ascherio A. Allergy, family history of autoimmune diseases, and the risk of multiple sclerosis. Acta Neurol Scand 2008, 117:15-20.
Robbie-Ryan M, Brown M. The role of mast cells in allergy and autoimmunity. Curr Opin Immunol 2002, 14: 728-733.