Wenig Trinken ist keine Lösung
Zu den Symptomen, die mit einer Multiplen Sklerose verbunden sein können, gehören Blasenfunktionsstörungen. 50 bis 80 Prozent der Menschen mit MS sind davon betroffen.
Ebenso wie auch die Multiple Sklerose sehr unterschiedliche Gesichter hat, so sind auch die Blasenfunktionsstörungen sehr verschieden ausgeprägt. Im Wesentlichen lassen sich bei MS drei Formen unterscheiden: die überaktive Blase mit häufigem Harndrang (Dranginkontinenz), der zu unwillkürlichem Harnverlust führen kann, das Gegenteil, nämlich eine Blase, die sich zwar häufig, aber unvollständig entleert, sowie eine Kombination aus Dranginkontinenz und unzureichender Blasenentleerung. "In diesem Fall sind Blasenschließmuskel und Blasenfunktion nicht optimal aufeinander abgestimmt. Und trotz eines starken Harndrangs und Inkontinenz bleibt nach dem Toilettengang Restharn in der Blase zurück", erklärt Dr. med. Barbara Sinner, die als Fachärztin für Urologie in Hamburg auch Menschen mit MS betreut, und sie ergänzt: "Anders als bei der 'normalen' Inkontinenz, bei der ein Urinverlust stattfindet, weil der Blasenschließmuskel nicht richtig dicht hält, liegt bei MS eine neurologische Störung der fein aufeinander abgestimmten Blasenfunktionsmechanismen vor."
Das Arztgespräch nicht zu lange hinauszögern
Blasenfunktionsstörungen entwickeln sich fast immer schleichend. Manche Betroffene haben schon länger Symptome, sprechen aber erst dann mit dem Arzt, wenn die Symptomatik sich verschärft. So lange sollte man nicht warten. "Denn", so Barbara Sinner, "man kann zwar leider die neurologische Störung nicht rückgängig machen, aber es gibt eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten."
Welche Form der Funktionsstörung vorliegt, kann ein Facharzt diagnostizieren, etwa indem er die vollständige Blasenentleerung mit dem Ultraschall untersucht oder mit einer urodynamischen Untersuchung die Druckverhältnisse in der Blase überprüft. "Ein wichtiges Diagnoseinstrument ist ein über zwei Tage geführtes 'Blasentagebuch', in dem der Betroffene selbst aufschreibt, welches Volumen er trinkt und wie viel Harn bei jedem Toilettengang ausgeschieden wird", sagt die Fachärztin, "daran lässt sich schon sehr gut ablesen, ob die Blase ein normales oder ein zu kleines Volumen hat." Zur Diagnostik gehört auch eine Urinuntersuchung, um Entzündungen oder andere Ursachen für die Symptome auszuschließen. "Liegt eine Blasenentleerungsstörung vor, sollten die Nieren einmal im Jahr darauf kontrolliert werden, ob ihr Harnabfluss zur Blase ausreichend funktioniert oder ob der Harn von der Blase zu den Nieren zurückgedrückt wird und sie dadurch schädigt."
Es gibt eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten
Je nach Diagnose können unterschiedliche Medikamente entweder die Blase ruhigstellen, um den Harndrang zu mindern – manchmal sogar mit dem Nebeneffekt, dass die ruhiggestellte Blase weniger infektanfällig ist –, oder dem Blasenschließmuskel helfen, sich zu öffnen. Bleibt die Blase trotz einer Medikamententherapie überaktiv, kann sie mit Botulinumtoxin teilweise oder ganz ruhiggestellt werden. "Das ist wichtig bei Betroffenen, deren Blase den Harn zu den Nieren zurückdrückt. Die Blase muss dann regelmäßig vom Patienten selbst über einen Katheter entleert werden. Die Selbstkatheterisierung ist nichts, wovor man sich fürchten muss und nur am Anfang ungewohnt", beruhigt Barbara Sinner, "sie ist leicht erlernbar und nicht komplizierter als einen Tampon einzuführen."
Unabhängig von der Art und Ausprägung einer Blasenentleerungsstörung sollten Betroffene genug trinken, ohne genügend Flüssigkeit funktioniert im Körper nichts richtig. Zudem verschärft eine zu geringe Trinkmenge die Problematik. "Wird die Blase immer nur tröpfchenweise gefüllt, verlernt sie sich zu entfalten, ihr Volumen wird immer kleiner und die Infektionsgefahr steigt", erläutert die Urologin und rät zum bewussten Trinken. Und zum Training der Blasenkapazität, um dem Harndrang nicht umgehend nachgeben zu müssen.
Täglich mindestens zwei Liter trinken
In der Regel wird das Training zunächst mit Medikamenten unterstützt, damit sich die Intervalle zwischen den Toilettengängen zunehmend ausdehnen lassen. "Ich rate meinen Patienten immer davon ab, prophylaktisch ihre Blase zu entleeren, wenn sie etwas getrunken haben. Denn das beeinträchtigt das Gefühl für die tatsächliche Füllmenge. Die Psyche spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt dieses sogenannte 'key in the lock'-Phänomen – die Blase macht sich schlagartig und vehement bemerkbar, sobald der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird. Hier rate ich dann, nicht sofort ins Bad zu stürmen, sondern zunächst in Ruhe den Mantel abzulegen, die Tasche zur Seite zu stellen und erst dann die Toilette aufzusuchen. Und auch hier erst einmal tief durchatmen, bevor man sich der Kleider entledigt."
Die Fachärztin empfiehlt eine tägliche Trinkmenge von zwei bis zweieinhalb Litern Flüssigkeit, dazu kann das Führen eines Trinktagebuchs anfangs hilfreich sein, um die Flüssigkeitsaufnahme zu dokumentieren. Wer zum Frühstückskaffee z. B. noch ein Glas Saft trinkt, hat anstelle von 200 Millilitern schon die doppelte Menge geschafft. Auch eine schöne Trinkflasche, die morgens gefüllt und über den Tag geleert werden soll, kann zum Trinken anregen. So wird der Wasserspeicher des Körpers im Laufe des Tages kontinuierlich gefüllt. Wer nun fürchtet, dass ihm die Blase deswegen schlaflose Nächte bereitet, kann sein Trinkverhalten ein bisschen mehr auf den Vormittag verschieben. Allerdings so, dass man auch abends noch ein Glas trinken kann. "Oft liegt ja ein inadäquater Harndrang aufgrund der neurologischen Störung vor und nicht weil die Blase voll ist", sagt Dr. Sinner. "Wenn jedoch die Blase zum Schlafräuber wird und die Betroffenen ständig müde sind, weil ihnen der nötige Schlaf fehlt, kann der Facharzt ein blasenberuhigendes Medikament verordnen, damit man nachts mehr Ruhe hat."