06.10.2022 – Wissenschaft & Forschung

Multiple Sklerose: Verdacht gegen Epstein-Barr-Virus erhärtet sich

MÜNSTER (Biermann) – Eine aktuelle Studie lässt vermuten, dass die Immunzellen, die bei Multipler Sklerose ins Nervensystem wandern, vom Epstein-Barr-Virus dorthin gelockt werden.
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Warum erkranken manche Menschen an Multipler Sklerose (MS) und andere nicht? Die Suche nach den Auslösern der Krankheit gestaltet sich schwierig, eine einzelne Ursache schließt die Forschung aus. Dennoch haben Wissenschaftler neben der genetischen Veranlagung immer wieder einen Verdächtigen im Visier: das Epstein-Barr-Virus (EBV). Eine Infektion damit könnte nicht nur zeitlich der Entwicklung von MS vorausgehen – sie könnte ein ursächlicher Faktor für die schädlichen Prozesse sein, die bei der MS im Nervensystem ablaufen.

Neue Nahrung bekam der Verdacht im Januar dieses Jahres. Damals war eine retrospektive Studie erschienen, die Daten von mehr als zehn Millionen Angehörigen des US-Militärs ausgewertet hatte. Dabei zeigte sich, dass jeder, der im Beobachtungszeitraum mit MS diagnostiziert wurde, vorher Antikörper gegen EBV entwickelt hatte. Der für MS charakteristische Nervenschaden entstand erst nach dem Auftreten von EBV-Antikörpern im Blut.

Diese Ergebnisse nahmen Forscher der Universität Münster zum Anlass, Rezeptoren auf T-Zellen zu untersuchen, die an alle denkbaren Eiweißstrukturen binden können – unter anderem auch an die von EBV. Ihre Analyse zeigte: Die zelluläre Immunantwort gegen EBV ist bei MS-Betroffenen vielfältiger, wie Dr. Tilman Schneider-Hohendorf erklärte.

Zudem produziert das Immunsystem von Menschen mit MS offenbar kontinuierlich neue EBV-spezifische T-Zellen, die dann vom Blut ins Gewebe auswandern. Das entdeckte das Forschungsteam bei MS-Betroffenen, bei denen der Auswanderungsprozess medikamentös unterdrückt wurde. Bei ihnen sammelten sich die fraglichen T-Zellen im Blut an.

Um sicher zu gehen, dass die MS und nicht etwa genetische Unterschiede zwischen den untersuchten Proben die ungewöhnlich große Zahl EBV-spezifischer T-Zellen erklärt, nahmen die Neuroimmunologen eineiige Zwillingspaare in den Blick, von denen nur ein Geschwister MS entwickelt hatte. Auch bei diesen wiesen die betroffenen Zwillingsgeschwister mehr EBV-spezifische T-Zellen auf. Zudem fanden die Forscher im Liquor von MS-Betroffenen häufiger Hinweise darauf, dass das Virus bei ihnen aktiv war.

„Unsere Studie legt nahe: T-Zellen, die bei MS ins Gehirn einwandern, sind möglicherweise auf der Suche nach aktiven EBV-Herden. Stimmt das, müssten nicht nur im Nervenwasser, sondern auch im Gehirn von MS-Patienten vermehrt EBV-spezifische T-Zellen zu finden sein“, fasste Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie in Münster, die Erkenntnisse seiner Arbeitsgruppe zusammen. Diese Frage wollen die Forscher in einer weiteren Analyse beantworten.

Sollte sich ihre Annahme bestätigen, könnte wiederkehrende EBV-Aktivität im Gehirn an der Entstehung neuer Krankheitsschübe beteiligt sein. Das wäre ein durchschlagender „Fahndungserfolg“ – denn dann ließe sich die MS möglicherweise besser bekämpfen und MS-Schübe könnten verhindert werden. Im Idealfall würde eine Impfung das Risiko einer folgenreichen EBV-Infektion verringern. Die Abklärung wird Jahre dauern – aber immerhin: Erste Impfstudien laufen bereits.