08.11.2022 – Wissenschaft & Forschung

Die Netzhaut als Prognosemarker

WIEN (Biermann) – Die Wahl der individuellen Medikation hängt von der Einschätzung ab, wie die Multiple Sklerose (MS) in der Zukunft verläuft – eine Prognose, die aktuell nicht verlässlich gestellt werden kann.
Teaserbild für "Die Netzhaut als Prognosemarker"

Wissenschaftler der MedUni Wien haben nun die Netzhaut des Auges als möglichen Prognosemarker identifiziert: Ihre Analysen ergaben, dass Schäden an der Netzhaut in Folge eines MS-Schubes die Schwere von künftigen Schüben und damit die Wahrscheinlichkeit einer bleibenden Behinderung vorhersagen kann.

Im Rahmen der Studie hatten die Forscherinnen und Forscher um Gabriel Bsteh und Thomas Berger von der Universitätsklinik für Neurologie der MedUni Wien und AKH Wien 167 MS-Patientinnen und Patienten über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren beobachtet, von denen mehrere kohärenztomographische Aufnahmen der Netzhaut (vor und nach Schüben) vorlagen. Dabei gingen sie von der Hypothese aus, dass schubbedingte Schäden an der Netzhaut des Auges das Ausmaß der Schäden im Gehirn widerspiegeln.

Wie ihre Analysen bestätigten, bedeutete der Verlust von fünf Mikrometern (5 µm) Netzhautschichtdicke nach einer Sehnerventzündung eine Verdopplung des Risikos für eine bleibende Behinderung nach dem nächsten Schub.

Den Forschern zufolge könnten diese Zusammenhänge künftig als Basis für Therapieentscheidungen herangezogen werden: So scheinen den Ergebnissen zufolge bei hohem Verlust an Netzhautschichtdicke intensivere Therapiemaßnahmen indiziert zu sein als bei geringeren Abnahmen. Das gelte auch dann, wenn Patienten zum Zeitpunkt der Messung noch keine oder nur leichte Behinderungen hätten, erklärten Bsteh und Kollegen.

Prognoseverfahren ist bereits verfügbar

Die Netzhautschichtdicke wird mittels optischer Kohärenztomographie (OCT) gemessen. Bei dieser bildgebenden Methode können mit Infrarotlicht hochauflösende dreidimensionale Bilder von sehr dünnen Gewebeschichten erstellt werden. Die OCT wird unter anderem bei Augenerkrankungen wie dem Glaukom bereits als Instrument zur Diagnose und Verlaufsbeurteilung eingesetzt. „Somit steht uns das Verfahren zur Verlaufsprognose von MS bereits jetzt zur Verfügung“, betont Bsteh und ergänzt: „Wie wir im Zuge unserer klinischen Studie festgestellt haben, sollten die Messungen bei Erstdiagnose, unmittelbar zum Zeitpunkt der MS-Schub-Sehnerventzündung und sechs Monate danach durchgeführt werden.“ 

Netzhaut als Fenster zum Gehirn

„Mit der Netzhautschichtdicke haben wir einen neuen Biomarker identifiziert, der gleichsam ein Fenster zum Gehirn darstellt“, fasst Bsteh die Essenz der Studie zusammen. Sollten sich die Ergebnisse in größer angelegten Folgestudien bestätigen, könnte das Verfahren auch in der klinischen Routine angewandt werden, sind die Forscher optimistisch.